Vertrag
zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und der Republik Österreich
über die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung
von gerichtlichen Entscheidungen, Vergleichen
und öffentlichen Urkunden
in Zivil- und Handelssachen
BGBl. 1960 II 1246
Der Präsident
der Bundesrepublik Deutschland
und
der Bundespräsident
der Republik Österreich
sind in dem Wunsche, in Zivil- und Handelssachen die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen, Vergleichen und öffentlichen Urkunden zu sichern,
übereingekommen, hierüber einen Vertrag zu schließen.
Zu diesem Zweck haben zu ihren Bevollmächtigten ernannt:
Der Präsident der Bundesrepublik Deutschland
Herrn Dr. Carl-Hermann Mueller-Graaf,
außerordentlicher und bevollmächtigter Botschafter
der Bundesrepublik Deutschland in Österreich
und
Herrn Fritz Schäffer,
Bundesminister der Justiz,
der Bundespräsident der Republik Österreich
Herrn DDr. h. c. Dipl.-Ing. Leopold Figl,
Bundesminister für die Auswärtigen Angelegenheiten,
und
Herrn Dr. Otto Tschadek,
Bundesminister der Justiz,
die nach Austausch ihrer in guter und gehöriger Form befundenen Vollmachten folgendes vereinbart haben:
Erster Abschnitt
Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen
Art. 1
(1)
Die in Zivil- oder Handelssachen ergangenen Entscheidungen der Gerichte des einen Staates, durch die in einem Verfahren der streitigen oder der freiwilligen Gerichtsbarkeit (im streitigen Verfahren oder im Verfahren außer Streitsachen) über Ansprüche der Parteien erkannt wird, werden im anderen Staat anerkannt, auch wenn sie noch nicht rechtskräftig sind. Als Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen sind auch Urteile anzusehen, die in einem gerichtlichen Strafverfahren über Ansprüche aus einem Rechtsverhältnis des Zivil- oder Handelsrechtes ergangen sind.
(2)
Für die Anerkennung ist es ohne Bedeutung, ob die Entscheidung als Urteil, Beschluß, Zahlungsbefehl, Zahlungsauftrag, Vollstreckungsbefehl oder sonstwie benannt ist.
Art. 2
Die Anerkennung darf nur versagt werden,
1.
wenn sie der öffentlichen Ordnung des Staates, in dem die Entscheidung geltend gemacht wird, widerspricht; oder
2.
wenn die unterlegene Partei sich auf das Verfahren nicht eingelassen hat,
a)
sofern ihr die Ladung oder die Verfügung, durch die das Verfahren eingeleitet worden war, nicht nach dem Rechte des Staates, in dem die Entscheidung ergangen ist, zugestellt worden war, oder
b)
sofern sie nachweist, daß sie von der Ladung oder der Verfügung nicht so zeitgerecht Kenntnis nehmen konnte, um sich auf das Verfahren einlassen zu können; oder
3.
wenn nach dem Rechte des Staates, in dem die Entscheidung geltend gemacht wird, die Gerichte dieses oder eines dritten Staates kraft Gesetzes ausschließlich zuständig waren; oder
4.
wenn für die Entscheidung lediglich der Gerichtsstand des Vermögens gegeben war und die unterlegene Partei
a)
entweder sich auf den Rechtsstreit nicht eingelassen oder
b)
vor Einlassung zur Hauptsache erklärt hat, sich auf den Rechtsstreit nur im Hinblick auf das Vermögen einzulassen, das sich im Staate des angerufenen Gerichtes befindet; oder
5.
wenn für die Entscheidung lediglich der Gerichtsstand des Erfüllungsortes nach § 88 Absatz 2 der österreichischen Jurisdiktionsnorm - Fakturengerichtsstand - gegeben war und die unterlegene Partei sich auf den Rechtsstreit nicht eingelassen hat.
Art. 3
(1)
Die Anerkennung darf nicht allein deshalb versagt werden, weil das Gericht, das die Entscheidung erlassen hat, nach den Regeln seines internationalen Privatrechtes andere Gesetze angewendet hat, als sie nach dem internationalen Privatrecht des Staates, in dem die Entscheidung geltend gemacht wird, anzuwenden gewesen wären.
(2)
Die Anerkennung darf jedoch aus dem im Absatz 1 genannten Grunde versagt werden, wenn die Entscheidung auf der Beurteilung eines familienrechtlichen oder eines erbrechtlichen Verhältnisses, der Rechts- oder Handlungsfähigkeit, der gesetzlichen Vertretung oder der Todeserklärung eines Angehörigen des Staates beruht, in dem die Entscheidung geltend gemacht wird, es sei denn, daß sie auch bei Anwendung des internationalen Privatrechtes des Staates, in dem sie geltend gemacht wird, gerechtfertigt wäre.
Art. 4
Die in einem Staat ergangene Entscheidung, die in dem anderen Staate geltend gemacht wird, darf nur daraufhin geprüft werden, ob einer der im Artikel 2 oder im Artikel 3 Absatz 2 genannten Versagungsgründe vorliegt. Darüber hinaus darf die Entscheidung nicht nachgeprüft werden.
Zweiter Abschnitt
Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen
I. Allgemeines
Art. 5
(1)
Rechtskräftige gerichtliche Entscheidungen, die in einem Staate vollstreckbar und in dem anderen Staat anzuerkennen sind, werden in diesem Staate nach Maßgabe der Artikel 6 und 7 vollstreckt.
(2)
Vorläufig vollstreckbare Entscheidungen von Gerichten in der Bundesrepublik Deutschland, die auf eine Geldleistung lauten, und Entscheidungen österreichischer Gerichte, auf Grund deren in der Republik Österreich Exekution zur Sicherstellung bewilligt werden könnte, werden, sofern sie in dem anderen Staat anzuerkennen sind, in diesem Staate nach Maßgabe der Artikel 6, 8 bis 10 vollstreckt.
Art. 6
Die Vollstreckbarerklärung (die Bewilligung der Exekution) und die Durchführung der Zwangsvollstreckung richten sich, soweit im folgenden nichts anderes bestimmt wird, nach dem Rechte des Staates, in dem vollstreckt werden soll.
II. Vollstreckung rechtskräftiger Entscheidungen
Art. 7
(1)
Der betreibende Gläubiger hat dem Antrag auf Vollstreckbarerklärung (Bewilligung der Exekution) beizufügen
1.
eine mit amtlichem Siegel oder Stempel versehene Ausfertigung der Entscheidung, die auch die Gründe enthalten muß, es sei denn, daß solche nach dem Rechte des Staates, in dem die Entscheidung ergangen ist, nicht erforderlich waren;
2.
den Nachweis, daß die Entscheidung rechtskräftig und vollstreckbar ist; dieser Nachweis ist zu erbringen
a)
bei Entscheidungen von Gerichten in der Bundesrepublik Deutschland durch das Zeugnis über die Rechtskraft und durch die Vollstreckungsklausel,
b)
bei Entscheidungen österreichischer Gerichte durch die Bestätigung der Rechtskraft und Vollstreckbarkeit.
(2)
Hat die unterlegene Partei sich auf das Verfahren nicht eingelassen, so hat der betreibende Gläubiger außerdem nachzuweisen, daß die das Verfahren einleitende Ladung oder Verfügung der unterlegenen Partei ordnungsgemäß zugestellt worden ist; dieser Nachweis ist durch eine beglaubigte Abschrift der Zustellungsurkunde oder durch eine gerichtliche Bestätigung über den Zustellungsvorgang zu erbringen.
III. Vollstreckung noch nicht rechtskräftiger Entscheidungen
Art. 8
(1)
Soll die Entscheidung eines österreichischen Gerichtes, auf Grund deren in der Republik Österreich Exekution zur Sicherstellung bewilligt werden könnte, in der Bundesrepublik Deutschland vollstreckt werden, so hat das Gericht, das die Entscheidung erlassen hat, auf Antrag des betreibenden Gläubigers unter sinngemäßer Anwendung der österreichischen Exekutionsordnung darüber zu beschließen, ob und für welchen Zeitraum die Exekution zur Sicherstellung zulässig ist; eine bestimmte Exekutionshandlung hat es jedoch nicht zu bewilligen. Ist die Zulässigkeit der Exekution von der Leistung einer Sicherheit abhängig, so ist diese beim österreichischen Gericht zu erlegen.
(2)
Der Antrag des betreibenden Gläubigers, die Entscheidung des österreichischen Gerichtes für vollstreckbar zu erklären, kann von dem Gericht in der Bundesrepublik Deutschland nicht deshalb abgelehnt werden, weil der im Absatz 1 genannte Beschluß, mit dem die Exekution zur Sicherstellung für zulässig erklärt wurde, noch nicht rechtskräftig ist.
Art. 9
(1)
Der betreibende Gläubiger hat dem Antrag auf Vollstreckbarerklärung (Bewilligung der Exekution zur Sicherstellung) beizufügen
1.
eine Ausfertigung der Entscheidung, die den Erfordernissen des Artikels 7 Absatz 1 Z. 1 entspricht;
2.
den Nachweis, daß die Entscheidung der unterlegenen Partei ordnungsgemäß zugestellt worden ist; dieser Nachweis ist durch eine beglaubigte Abschrift der Zustellungsurkunde oder durch eine gerichtliche Bestätigung über den Zustellungsvorgang zu erbringen;
3.
den Nachweis, daß die Entscheidung vollstreckbar ist; dieser Nachweis ist zu erbringen
a)
bei Entscheidungen österreichischer Gerichte durch eine mit dem amtlichen Siegel versehene Ausfertigung des im Artikel 8 Absatz 1 genannten Beschlusses über die Zulässigkeit der Exekution zur Sicherstellung und, falls eine Sicherheit zu leisten war, durch eine gerichtliche Bestätigung über deren Erlag,
b)
bei Entscheidungen von Gerichten in der Bundesrepublik Deutschland durch die Vollstreckungsklausel und, falls die Vollstreckung von einer Sicherheitsleistung abhängig ist, durch eine öffentliche oder öffentlich beglaubigte Urkunde, aus der sich ergibt, daß die Sicherheit geleistet wurde.
(2)
Hat die unterlegene Partei sich auf das Verfahren nicht eingelassen, so hat der betreibende Gläubiger außerdem den im Artikel 7 Absatz 2 geforderten Nachweis zu erbringen.
Art. 10
(1)
In der Republik Österreich ist auf Grund der im Artikel 5 Absatz 2 genannten Entscheidungen von Gerichten in der Bundesrepublik Deutschland nur die Exekution zur Sicherstellung zulässig. Einer Glaubhaftmachung der Gefährdung bedarf es jedoch nicht, wenn der betreibende Gläubiger die in der Entscheidung geforderte Sicherheit geleistet hat (Artikel 9 Absatz 1 Z. 3 Buchst. b).
(2)
In der Bundesrepublik Deutschland sind in Vollziehung der Vollstreckbarerklärung der im Artikel 5 Absatz 2 genannten Entscheidungen österreichischer Gerichte nur solche Maßnahmen zulässig, die der Sicherung des betreibenden Gläubigers dienen.
Dritter Abschnitt
Gerichtliche Vergleiche, Schiedssprüche und öffentliche Urkunden
Art. 11
(1)
Gerichtliche Vergleiche werden den rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidungen gleichgestellt.
(2)
Der betreibende Gläubiger hat dem Antrag auf Vollstreckbarerklärung (Bewilligung der Exekution) eine mit der Bestätigung der Vollstreckbarkeit (der Vollstreckungsklausel) und dem amtlichen Siegel oder Stempel versehene Ausfertigung des Vergleiches beizufügen.
Art. 12
(1)
Die Anerkennung und die Vollstreckung von Schiedssprüchen bestimmen sich nach dem Übereinkommen, das zwischen beiden Staaten jeweils in Kraft ist.
(2)
Vor einem Schiedsgericht abgeschlossene Vergleiche werden den Schiedssprüchen gleichgestellt.
Art. 13
(1)
Öffentliche Urkunden, die in einem Staat errichtet und dort vollstreckbar sind, werden in dem anderen Staate wie rechtskräftige gerichtliche Entscheidungen vollstreckt. Zu diesen Urkunden gehören insbesondere gerichtliche oder notarielle Urkunden und die in Unterhaltssachen von einer Verwaltungsbehörde - Jugendamt - aufgenommenen Verpflichtungserklärungen und Vergleiche.
(2)
Der betreibende Gläubiger hat dem Antrag auf Vollstreckbarerklärung (Bewilligung der Exekution) eine mit amtlichem Siegel oder Stempel versehene Ausfertigung der öffentlichen Urkunde beizufügen.
Vierter Abschnitt
Besondere Bestimmungen
Art. 14
(1)
Dieser Vertrag ist nicht anzuwenden
1.
auf Entscheidungen in Ehesachen und in anderen Familienstandssachen;
2.
auf Entscheidungen in Konkursverfahren und in Vergleichsverfahren (Ausgleichsverfahren);
3.
auf einstweilige Verfügungen oder einstweilige Anordnungen und auf Arreste.
(2)
Dieser Vertrag ist jedoch anzuwenden auf solche einstweilige Verfügungen oder einstweilige Anordnungen, die auf Leistung des Unterhaltes oder auf eine andere Geldleistung lauten. Diese Titel werden wie rechtskräftige gerichtliche Entscheidungen vollstreckt.
Art. 15
Die österreichischen Börsenschiedsgerichte sind Gerichte im Sinne dieses Vertrages in den Streitigkeiten, in denen sie ohne Rücksicht auf einen Schiedsvertrag zur Entscheidung zuständig sind. Soweit ihre Zuständigkeit auf einem Schiedsvertrag beruht, sind sie als Schiedsgerichte anzusehen.
Art. 16
Der betreibende Gläubiger, dem von dem Gericht des Staates, in dem die Entscheidung ergangen ist, das Armenrecht bewilligt worden ist, genießt ohne weiteres das Armenrecht auch für die Vollstreckung im anderen Staate.
Art. 17
Ist eine Sache vor dem Gericht eines Staates rechtshängig (streitanhängig) und wird die Entscheidung in dieser Sache in dem anderen Staat anzuerkennen sein, so hat ein Gericht dieses Staates in einem Verfahren, das bei ihm wegen desselben Gegenstandes und zwischen denselben Parteien später anhängig wird, die Entscheidung abzulehnen.
Art. 18
Dieser Vertrag berührt nicht die Bestimmungen anderer Verträge, die zwischen beiden Staaten gelten oder gelten werden und die für besondere Rechtsgebiete die Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen, Schiedssprüchen oder öffentlichen Urkunden regeln.
Art. 19
(1)
Dieser Vertrag ist nur auf Schuldtitel (Exekutionstitel) anzuwenden, die nach dem 31. Dezember 1959 entstanden sind.
(2)
Auf Schuldtitel (Exekutionstitel), die eine Verpflichtung zur Leistung eines gesetzlichen Unterhaltes zum Gegenstand haben, ist dieser Vertrag für die nach dem 31. Dezember 1959 fällig werdenden Leistungen auch dann anzuwenden, wenn der Schuldtitel (Exekutionstitel) in der Zeit vom 1. Mai 1945 bis zum 31. Dezember 1959 entstanden ist.
Art. 20
Soweit in anderen Verträgen hinsichtlich der Vollstreckung von Schuldtiteln (Exekutionstiteln) auf den Vertrag über Rechtsschutz und Rechtshilfe vom 21. Juni 1923 verwiesen wird, treten die entsprechenden Bestimmungen dieses Vertrages an dessen Stelle
Fünfter Abschnitt
Schlußbestimmungen
Art. 21
Dieser Vertrag gilt auch für das Land Berlin, sofern nicht die Regierung der Bundesrepublik Deutschland gegenüber der Bundesregierung der Republik Österreich innerhalb von drei Monaten nach dem Tage des Inkrafttretens des Vertrages eine gegenteilige Erklärung abgibt.
Art. 22
(1)
Dieser Vertrag bedarf der Ratifizierung. Die Ratifikationsurkunden sollen so bald wie möglich in Bonn ausgetauscht werden.
(2)
Der Vertrag tritt dreißig Tage nach dem Austausch der Ratifikationsurkunden in Kraft.
Art. 23
Jeder der beiden Staaten kann den Vertrag kündigen. Die Kündigung wird ein Jahr nach dem Zeitpunkt wirksam, an dem sie dem anderen Staate notifiziert wurde.
Zu Urkund dessen haben die beiderseitigen Bevollmächtigten diesen Vertrag unterschrieben und mit Siegeln versehen.
Geschehen zu Wien, am 6. Juni 1959, in zwei Urschriften.
Für die Bundesrepublik Deutschland:
Mueller-Graaf
Frtiz Schäffer
Für die Republik Österreich:
Leopold Figl
Dr. Otto Tschadek